»Aaltos Gebäude sind Blickmaschinen.«

Die Bauten Alvar Aaltos zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung und dem Verhältnis von Natur und Architektur. Die Ausstellung »Alvar Aalto – Second Nature« wirft einen neuen und aktuellen Blick auf den finnischen Architekten und Designer. Eigens für die Ausstellung wurde der in Mailand und Berlin lebende Künstler Armin Linke (* 1966) beauftragt, mehr als ein Dutzend Aalto-Bauten neu zu fotografieren und zu filmen. Linkes Bilder und Videos bewegen sich an der Grenze zwischen Fiktion und Realität, sie setzen sich mit den transformativen Kräften von urbanen und architektonischen Räumen und den darin interagierenden Menschen auseinander. Kurator Jochen Eisenbrand sprach mit Linke über seine persönliche Sicht auf Aalto, die Verbindung von innen und außen, die Rolle der Materialien und warum Linke Aaltos Bauten als »Blickmaschinen« oder »Erfahrungsgebäude« bezeichnet.

Aaltos Bauten und ihre besonderen, Qualitäten sind mittels Fotografie nicht einfach zu erfassen. Wie haben Sie das empfunden, und wie sind Sie damit umgegangen?

Ein Gebäude von Aalto ähnelt einem Kaleidoskop, das viele Facetten hat. Es handelt sich nicht um eine quadratische Schachtel, sondern um komplexe Formen mit einem komplexen Aufbau. Von außen erscheinen sie skulptural. Die Fenster sind immer sehr wichtig, sie wirken wie Rahmen, werden zu Bildern. Der Blick nach außen erfolgt mit System. Aus diesen Gründen kann man Aaltos Gebäude eigentlich nur in Sequenzen von Räumen erzählen, die das Innen und das Außen verbinden. Wenn man beispielsweise bei der Bücherei in Vyborg von außen in das Auditorium schaut, denkt man zuerst, es befände sich ein Vorhang am Fenster. Wenn man drinnen ist, versteht man, dass es sich dabei um die Holzdecke handelt. Im Foyer schaut man durch das verglaste Treppenhaus nach außen, der Fensterrahmen verschwindet. Aaltos Gebäude sind Blickmaschinen.

Neben dem Bezug von innen und außen spielt bei Aalto auch der Umgang mit Materialien eine große Rolle – welche Eindrücke haben Sie beim Fotografieren seiner Gebäude gesammelt?

Die Materialien sind bei Aalto sehr wichtig, sogar die Oberflächen sind facettiert. Viele Gebäude haben dank der von Aalto verwendeten Materialien eine besondere Taktilität. Keramik wird mit Holz kombiniert, Stoffpaneele treffen mit Glas zusammen. Aalto gelingt es, kalte, glänzende mit warmen und Licht absorbierenden Materialien zu kombinieren. Das nimmt den Gebäuden ihre Monumentalität und schafft eine gewisse Intimität. Die Gebäude sind freundlich, man fühlt sich geschützt und geborgen. Auch durch die Terrassierung oder Wölbung der Decken
entsteht ein Nesteffekt. Dafür öffnen sich die Räume an anderer Stelle wieder, was einen gewissen Befreiungscharakter hat. Es sind Erfahrungsgebäude, Perzeptionsmaschinen. Man wird angeregt, sich durch sie hindurchzubewegen.

Sehen Sie die Abfolge der Räume als ein wesentliches Element?

So wie die verschiedenen Räume an bestimmten Punkten zusammentreffen, scheint es, als würden sie einem Skript folgen. Man kommt von intimeren zu öffentlichen Räumen, um sich mit den verschiedenen Benutzern des Gebäudes zu treffen. Die Architektur ist so aufgebaut, dass sie an verschiedenen Stellen Gemeinschaftlichkeit erlaubt. Vielleicht war es ein Zufall, aber als ich einige der Gebäude besuchte, waren sie gerade sehr belebt. In der Bücherei in Vyborg präsentierten Schüler eine Aufführung, in der Dreikreuzkirche in Vuoksenniska gab es eine kleine Konferenz. Die Gebäude sind gut, weil sie ihre soziale Funktion immer noch erfüllen, weil sie soziale Gebäude sind. Man hat die Freiheit, in einem sozialen Raum zu sein, aber man kann sich auch zurückziehen, um sich zu konzentrieren. Wie in der Musik: In einer Partitur heißt es manchmal »tutti insieme«, dann folgt wieder ein Solo.

Sie haben Aalto-Bauten in Finnland, Russland, Italien, Deutschland und Frankreich fotografiert – hat Sie auf Ihren Reisen ein Gebäude oder ein Raum besonders überrascht?

Manchmal waren es Details. Am Kulturzentrum Wolfsburg befinden sich Leuchten über den Oberlichtern. Aalto setzt das elektrische Licht also wie das Tageslicht ein. Zugleich sind diese Außenleuchten nicht nur ein funktionelles Accessoire, sondern sie werden wie eine Skulptur behandelt. Das Dach wird zu einer Skulpturenlandschaft. Steht man unten vor dem Gebäude, ist das nicht zu sehen. Man erkennt es erst, wenn man die Dachterrasse betritt. In der Dreikreuzkirche in Vuoksenniska habe ich erst am Ende verstanden, dass man die drei Trennwände herausziehen kann. Das funktioniert nach wie vor und wird immer noch genutzt. Ein weiteres Beispiel sind die Marmorplatten vor dem Finnischen Pavillon in Venedig: Sie sind nicht gleichmäßig gesetzt, sondern wie eine Partitur. Solche Details sind wirklich einmalig. Manchmal erkenne ich das sogar erst im Nachhinein, wenn ich die Bilder anschaue.