Interview mit Richard Sennett

Seit mehr als 30 Jahren erforscht der US-Soziologe Richard Sennett das urbane Zusammenleben. In einem Interview spricht er über die Tücken und Chancen einer offeneren, durchlässigeren Stadtplanung und des gemeinsamen Wohnens.

Sie haben Bücher geschrieben über das Konzept einer »offenen Stadt«. Was läuft schief in der herkömmlichen Stadtplanung?

1990 war ich in Berlin bei einem Stadtplaner. Er hatte ein riesiges Modell auf dem Tisch. Irgendwann zog er die Decke weg und sagte: Sehen Sie mal, das ist der neue Alexanderplatz, schon alles fertig! Natürlich war sein Plan völlig undemokratisch, er wollte einfach ein fertiges Modell auf den Stadtteil setzen – das funktioniert im modernen Kapitalismus, lässt aber die Betroffenen außen vor. Der  Stadtplaner, der glaubt, die Lösung für alle Probleme zu besitzen, ist der Grund allen Übels. Außerdem neigen die Leute in den Behörden dazu, nur das zu bauen, was sie schon kennen. Auch viele Architekten sträuben sich, beim Entwurf mit den Bewohnern zusammenzuarbeiten.

Funktioniert Stadtplanung auch deshalb nicht, weil gute Nachbarschaft im Kapitalismus keinen Wert darstellt?

Natürlich. Investoren und Fondsgesellschaften wissen in der Regel so gut wie nichts über die Gegend, in der sie bauen. Die Sache wird durch das sogenannte »Flipping« erschwert: Ein Investor beginnt den Bau und verkauft seine Anteile noch vor der Fertigstellung weiter. Man sollte gesetzlich verfügen, dass jeder Investor seine Anteile an einem Neubau mindestens drei Jahre halten muss, aber allein die Debatte hat die Investoren schon einmal aufschreien lassen: So können wir nicht arbeiten!

Wie sieht denn aus der Sicht des Soziologen die perfekte Wohnung aus?

Das ist genau die Frage, die nach einer geschlossenen, festgelegten Antwort verlangt, nach einem fertigen Plan, dabei wäre eine neue Art zu denken viel hilfreicher, ein nichtlineares, offenes Denken mit unfertigen Orten.

Also gut: Was müsste eine gute Wohnung in Ihren Augen besitzen?

Sie besäße eine flexible, unfertige Form mit Platz für mehr oder weniger Begegnung. Die Bewohner sollten die Räume jederzeit verändern können. Die englischen Stadthäuser aus dem 18. Jahrhundert für die Großfamilien sind sehr flexibel, sie gleichen einer Schuhschachtel, die Wände lassen sich einfach versetzen, heute sind die Räume multifunktional. Die Einfachheit der Form erleichtert Flexibilität.

Sind Familien im Vergleich zu Wohngemeinschaften nicht auch sehr geschlossen?

Nein, das Konzept von der Kleinfamilie ähnelt vielleicht einer bewachten Wohnanlage, aber bei einer Scheidungsrate von 50 Prozent, angesichts ganz neuer Familienarten wie etwa der gleichgeschlechtlichen ist die Familie schon lange kein geschlossenes System mehr. In Deutschland gibt es inzwischen mehr Einpersonenhaushalte als Kleinfamilien oder Wohngemeinschaften. Dafür gehen Menschen, die allein wohnen, öfter aus, kaufen ein, gehen in Bars und Restaurants. Die einzigen Singles, die zwangsläufig vereinsamen, sind alte Menschen.

Wie sieht die Zukunft des Wohnens aus?

Ich suche nach neuen Wohnformen, nicht Wohngemeinschaften, aber Häusern, die in einem größeren Kontext gemeinsames Wohnen und das Entstehen von öffentlichem Raum erleichtern. Meine Kollegen und ich wollen den urbanen Wohnblock neu erfinden, in dem öffentlicher Raum funktioniert, ohne die Privatsphäre Einzelner zu verletzen. Mit Gemeinschaftsgärten und genügend Platz für Kinder, die von den Nachbarn abwechselnd beaufsichtigt werden. Die Entwicklung zum Alleinwohnen hat sich als schlecht herausgestellt. Wenn man in seinen Zwanzigern steckt, ist es in Ordnung, zur Untermiete zu wohnen. Besser wäre allerdings, wenn Menschen gemeinsam leben können und auch etwas für die Gemeinschaft tun. Und wenn der private wie öffentliche Raum durchlässiger wäre.



Richard Sennett ist einer der profiliertesten Soziologen unserer Zeit. Er ist Professor an der New York University und lehrt an der London School of Economics. Sowohl in seiner Forschungsarbeit als auch als Autor befasst er sich mit den Themen Städte, Arbeit und Kultursoziologie. Zuletzt erschienen sind »Together: The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation« (2012) und »The Open City« (2016). Eine längere Fassung dieses Interviews durch Thomas Bärnthaler und Lars Reichardt ist im Süddeutsche Zeitung Magazin erschienen.