»Ein Haus ist ein Zuhause«

Interview mit Balkrishna Doshi


Der Architekt Balkrishna Vithaldas 
Doshi (*26. August 1927 in Pune, Indien) zählt zu den einflussreichsten Pionieren moderner Baukunst in seinem Heimatland. Für sein Lebenswerk  erhielt Doshi 2018 als erster indischer Architekt den renommierten Pritzker-Preis. Jolanthe Kugler, Kuratorin am Vitra Design Museum, sprach mit dem 91-Jährigen über die Verbindung von indischer Tradition und westlicher Moderne in seinen Bauten, über seine revolutionären sozialen Wohnbaukonzepte und die prägende Zusammenarbeit mit Le Corbusier in den 1950er-Jahren.

In den 1950er-Jahren arbeiteten Sie für und mit Le Corbusier in Paris und später in Indien. Was haben Sie von ihm gelernt? 

Ich entdeckte mich selbst als Inder wieder und mein Heimatland als einen Ort, an dem gesellschaftliche und kulturelle Traditionen und Lebensweisen der Schlüssel zur Nachhaltigkeit sind. 

Sie sind 1956 nach Indien zurückgekehrt. Wie haben Sie diese Jahre in Ahmedabad erlebt? 

Unabhängigkeit, Hoffnung, die Befreiung aus der Abhängigkeit – das war die Stimmung in Indien während der 1950er-Jahre. Die Menschen wollten so viel. Zur Vision der Unabhängigkeit gehörte auch die Suche nach Identität und angemessenen Lösungen für den Wohnbau und die sozioökonomische und kulturelle Entwicklung.

Über Jahrhunderte ist Indien von seinem Kastensystem geprägt worden. Auch heute noch ist die Kluft zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Kasten, zwischen Arm und Reich riesig. Was kann Architektur, was kann Städtebau dazu beitragen, diese Unterschiede zu mildern?

Trotz der komplexen sozioökonomischen und kulturellen Situation nach der Unabhängigkeit bestand die Hoffnung, nicht zuletzt durch Feiern und Feste den Geist der Nation zurückzuholen und eine kulturelle Identität zu schaffen. Chandigarh wurde zum Symbol der Moderne und der Innovation – eine neue Welt der Harmonie und des Friedens, die die damalige Situation in Frage stellte. Daraus entstanden neue Institutionen, die ihr Programm aus einem multidisziplinären Ansatz heraus entwickelten, der allmählich eine neue, zeitgenössische Identität hervorbringen sollte. 

Sie sagten einmal, das Entwerfen von günstigem Wohnraum habe viel mit Würde zu tun. Worin zeigt sich diese Würde in Ihren Bauten? 

In der Schönheit. Im Platzangebot. In einer gewissen räumlichen Harmonie. Im inszenierten Spiel mit dem Wetter und den Jahreszeiten. Und in der Fähigkeit, zu altern und nach vielen Jahrzehnten immer noch verhältnismäßig gut in Schuss zu sein. 

In vielen Ihrer Gebäude finden sich auch traditionell indische Gestaltungselemente. 

Zunächst einmal betrachten wir Architektur hier nicht als Gebäude oder gebaute Form. Ein Haus ist ein Zuhause, eine Behausung. Ein Haus ist eine Erweiterung des Familienlebens. Die indische Architektur ist sehr flexibel, aber sie ist auch sehr am Klima orientiert. Alle Häuser haben Innenhöfe und Veranden, die Übergänge zwischen Innen und Außen, Lebensart und Klima sind fließend. Das sind gewachsene Strukturen, da hängt alles miteinander zusammen. 

Ende der 1970er-Jahre begannen Sie mit dem Bau Ihres eigenen Architekturbüros. Sie nannten das Gebäude »Sangath«, was so viel bedeutet wie »sich zusammen bewegen«. 

Dieses Gebäude ist mehr als ein Büro. Es ist auch ein Begegnungsort und ein Zuhause. Dafür habe ich alles  internationale abgeschüttelt und versucht, ein neues Vokabular zu entwickeln, das die Moderne einbezieht, sich aber zugleich ganz stark auf die  indischen Traditionen beruft. Ich habe versucht, ganz ich selber zu sein. Intuition und Suche sind hier die Schlüsselbegriffe, nicht Rationalität und Lösungen. Der Eingang ist eng und  versteckt. Die Räume sind miteinander verbunden und die Beleuchtung ermöglicht vielfältige Tätigkeiten. Ich suchte nach den Erinnerungen meiner Kindheit. Sich verlieren. Sich mithilfe aller Sinne bewegen.


Alle Informationen zur Ausstellung »Balkrishna Doshi. Architektur für den Menschen« finden Sie hier.